Als ich mich für das AIR-Programm der Residencia Corazon in La Plata, Provincia de Buenos Aires, bewarb, war mein Interesse die Auseinandersetzung mit der Zeit von 1976-81, als das Militärregime während dieser Zeit bis zu 30.000 Menschen verschleppt, gefoltert und getötet hatte.
Während den Vorbereitungen für den Aufenthalt las ich das Buch „Die Nacht der Bleistifte“ [1] – eine Dokumentation der ersten Festnahmen von Jugendlichen in La Plata am Beginn der Militärdiktatur – und war sehr betroffen. Es waren Jugendliche in meinem Alter, die gefangen genommen, vergewaltigt und gefoltert wurden, und die wenigsten wurden wieder freigelassen. Die Mütter der „Desaparecidos“ – Verschwundenen – gingen ab 1977 auf die Straße und demonstrierten gegen das Regime.
[1] „Die Nacht der Bleistifte“, Maria Seoane, Hector Ruiz Nunez. Schmetterlingverlag Gmbh, 1989, ISBN 3926369620
Noch heute kommen Las Madres y Abuelas jeden Donnerstag in Buenos Aires zusammen und rufen am Plaza de Mayo die Namen der Verschwundenen aus.
Auch in der Stadt La Plata, 60km südlich von Buenos Aires gelegen, fanden bis 2019 die Demonstrationen am Plaza San Martin statt. Durch die Covid-Maßnahmen wurden sie 2020 eingestellt. Dennoch sind die Spuren der Widerstandsbewegung der Madres im öffentlichen Raum verankert.
Das Kopftuch – Panuelo – ist das Symbol der Madres und Abuelas. Auf dem Plaza San Martin ist ein Relief im Boden verankert, um das Reiterdenkmal herum sind Panuelos in weiss gemalt.
Bis heute findet die Aufarbeitung in der Institution cpm – comision provincial por la memoria – statt:
el mecanismo local de prevencion de la tortura.
Auch für die Leiter der Residencia Corazon, Juan-Pablo Ferrer und Rodrigo Mirto, ist die Aufarbeitung dieser Zeit ein wichtiges Thema. Deshalb haben sie mich aufgrund meiner Bewerbung eingeladen das Thema künstlerisch zu erarbeiten.
Ich war betroffen und berührt vom Schicksal der Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Da ich seit Jahren Serien von Tonfiguren auf den monatlichen Zyklus bezogen herstelle, habe ich in der Residencia Corazon einen weiteren Zyklus gestaltet. Diesmal sind es 28 Rasseln aus Ton, mit denen ich symbolisch die Mütter im laut werden unterstütze. Wie die Madres und Abuelas bis heute auf die Straße gehen und ihre Stimme erheben, sollten auch die Rasseln Lärm machen – hacer ruido.
Die Skulpturen, die Susanne Kompast im Rahmen ihres Aufenthalts in der Residencia Corazon präsentiert, mögen auf den ersten Blick wie stille, statische Darstellungen erscheinen. Aber es genügt sie zu schütteln, um etwas in ihnen zu hören, das einem auffällt.
In diesen minimalen Gesten wird eine Politik des Zuhörens gewebt. Eine Taktik des Widerstands, die losgelöst von der Geschichte der Heldentaten und Errungenschaften, um ein Zuhören in der Zärtlichkeit jener anderen Erinnerung an Ungehorsam, an Bündnisse und Widerstand zu schaffen, in die wir vielleicht Zuflucht nehmen können.
In Zeiten der Ungewissheit, der schmerzhaften Erinnerungen, die sich in die Gegenwart einschlagen und Schreckgespenster erfinden, bestehen diese Werke auf der Möglichkeit, angesichts des kollektiven Schmerzes, und des eigenen Schmerzes, zusammen zu kommen und zu bleiben.
Darin liegt vielleicht die Großzügigkeit der Künstlerin: der Erinnerung einen Ort zu geben, wo sie gehört werden kann, Raum zu schaffen für das kaum hörbare Rauschen.
Die Einladung ist, dem Klang der gebrochenen Schnur einer Geschichte zu lauschen, als etwas, das vielleicht nicht draußen ist, aber das jeder hört, wie es hüpft, im Inneren widerhallt, nach einem Ausweg sucht oder einfach nur als Erinnerung an das klingt, was möglich gewesen wäre.
Der Aufruf an diejenigen von uns, die bleiben, ist, die Stücke zu bewegen, bis wir die sensibelsten Wege finden, die Erinnerung zu erleben, in den Streit um ihre Repräsentation einzugreifen. Den Widerspruch unseres Kontextes, die problematischen Situationen, die unsere sozialen Strukturen umreißen, oder die Komplexität dessen, was es bedeutet, mit anderen zu koexistieren, zu navigieren. Diese Diskrepanz zu finden, den Rest dieses unstimmigen Tones, um unsere Meinungsverschiedenheit mit den Existenzweisen zu verstärken, die unsere Gegenwart anbietet,
Text von Catalina Poggio, Kunsthistorikerin
Ich arbeitete auf eine Performance hin, die am Ende des Aufenthalts im Dezember gezeigt wurde.
Darstellerinnen: Ivana Mettler, Rosana Ybarra, Susanne Kompast, Catalina Poggio
Zu den Rasseln kamen zwei weitere Instrumente in Form von Regenmachern – Röhren, die mit Papierkugeln gefüllt waren, die jeweils einen der 30 Artikel der Menschenrechte symbolisierten.
Während die Papierkugeln als Symbol der Artikel der Menschenrechte bei der Performance als Regenmacher laut wurden, sind sie für die Sanduhr Plastik zu Sandkörnern geworden – können sie durch den Spalt durchrieseln und angewandt werden, oder sind sie ob der weltweiten Greueltaten stecken geblieben?
Seit Jahren ist für mich die Form der Sanduhr ein Symbol der Aufarbeitung zum Gedenken. Da der 9.November in die Zeit meines Aufenthalts in der Residencia Corazon fiel, war die zweite Sanduhr aus Kartonschachteln mit den Menschenrechten als Sandkörner ein Erinnerungsmal an die Zerstörung der Synagogen in der Reichskristallnacht am 9.November 1938.
Wie wird mit der Zeit umgegangen? Welche Wirkung hat ein Mahnmal? Entsprechend dem Vorgehen vom 9.11.1938 wurde das Erinnerungsdenkmal verbrannt – mit den Menschenrechten als Sandkörner. Die Menschenrechte wurden 1948 ausgerufen um weitere Greueltaten der Zerstörung zu verhindern. Es hat Errungenschaften gegeben, die UNO arbeitet konstant weiter, aber die Erkenntnis, dass – alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind und sie mit Vernunft und Gewissen begabt einander im Geiste der Geschwisterlichkeit begegnen sollen – bleibt großteils aus.
Etliche der Figuren warf ich in den Rio del Plata, symbolisch auf das Schicksal der 30.000 verschwundenen Menschen eingehend.
Das Museo de Arte y Memoria (MAM) ist ein Teil der cpm – comision provincial por la memoria. Es wurde 2002 ins Leben gerufen mit der Idee die Geschichte der 1983 neu gegründeten Republik mit künstlerischen Arbeiten und Interventionen zu zeigen. Das Museum ist als Raum zur Sensibilisierung und Transmission der Erinnerung zu orten, der die Möglichkeit bietet gesellschaftliche Auseinandersetzungen aus dem Blickwinkel der Menschenrechte wahrzunehmen.
“un espacio de sensibilizacion y transmision de la memoria que abre a la sociedad el debate en torno a los derechos humanos y el arte”
“ein Raum der Bewusstseinsbildung und der Weitergabe der Erinnerung, der der Gesellschaft die Debatte über Menschenrechte und Kunst öffnet”